Der heutige Zeitgeist erfordert Klarheit und manchmal eine wendige, kurze Erklärung, um nicht überlastet zu werden. Daher ist dies ein Versuch, so fix wie möglich Begriffe zu klären und dich sofort wieder in die Stille zu entlassen.

Ist das Kamasutra nur ein verstaubter Ratgeber? Was hat das Kamasutra mit dem Tantra zu tun?

Indisches Fachbuch der Oberschicht

Das Kamasutra ist mit der bezaubernden Sanskritübersetzung „Verse des Verlangens“ der Klassiker der Liebeskunst und war vor allem für die aristokratische Oberschicht gedacht.

Es entstand ca. 200-300 n. Chr. in Nordindien und ist vermutlich von Vatsyana Mallanga verfasst, über dessen Leben keine weiteren Kenntnisse vorliegen.

Dieses Werk diente als schriftlicher Leitfaden der Erotik und Liebe. In diesem Aspekt steht es in Beziehung zum Tantra.

Im Unterschied zu den religiösen indischen Texten, welche die „niederen Gelüste“ als gefährliche Feinde der spirituellen Entwicklung anprangern, wird diesen im Kamasutra gehuldigt.

Das Wort Kamasutra ist aus den Wörtern Kāma und Sūtra und zusammengesetzt:

  • Kāma (Sanskrit काम) bezeichnet das sinnliche Verlangen und seine Erfüllung als eine Kraft der Evolution.
  • Sūtra (Sanskrit सूत्र) ist die Versform indischer Lehrtexte.

In Deutschland wurde erst im Jahr 1897 eine vollständige deutsche Übersetzung veröffentlicht. Schon damals erzeugte es mit den zahlreichen sexuellen Stellungen Aufruhr, aber populär wurde es vor allem in der westlichen Welt in den 60er-Jahren mit seinen kulturellen Änderungen.

Neue Interpreten des Kamasutras behaupten, dass der Text weit über die Funktion einer erotischen Belehrung hinausgedacht war. Beispielshalber als eine wesentliche Quelle für die Kultur und die persönliche Ethik. Dennoch ist das Kamasutra vor allem eine weltlich-höfische Lehre des Genusses.

Die Welt des Tantra

Das Tantra umfasst ebenfalls das sinnlich-körperliche Erleben und verwendet die Sexualität als einen Baustein zur Transformation.

Aber es geht noch weit darüber dies hinaus! Der Sanskrit-Begriff Tantra bedeutet Gewebe/Zusammenhang. Demzufolge umfasst die tantrische Haltung, dass alle Phänomene der Welt als eine Einheit betrachtet werden und keine Erfahrung abgelehnt wird – gleich wie sie gestrickt ist.

Die Dualität existiert genauso wie die Welt der Auflösung der Gegensätze. Das Tantra hat einen äußerst positiven Bezug zur Materie und lädt ein, das normale Leben als einen spirituellen Prozess zu betrachten.

Daher fordert das Tantra keinen Rückzug von der Welt, um sich selbst zu erfahren. Es sagt: Lebe mit diesem Körper, deinen Sehnsüchten, allen Gefühlen und in allen Situationen, die das Leben dir bietet, um dein göttliches Selbst zu erfahren.

Der ursprüngliche Tantrismus fokussierte auf die Ausweitung des Bewusstseins. So finden sich unter den ca. 160 Sutras des Vijnana-Bhairava-Tantra – einem Grundlagentext, der die verschiedenen tantrischen Yoga-Praktiken beschreibt – nur 3 Sutras, die sich explizit mit Sexualität beschäftigen. Elemente des klassischen Yogas wurden verwendet wie auch meditative Visualisierungen und komplexe (erotische) Rituale.

Modernes Tantra

Das zeitgemäße sogenannte Neo-Tantra lässt sich im modernen Leben anwenden und gleichzeitig berührt es die tiefsten Herzenswünsche und spirituellen Bedürfnisse.

Es lehnt sich an die alten Lehren an und kombiniert Methoden der westlichen Körperpsychotherapie hinzu.

Aus dem Westen wurde so das Wissen über mehrere Generationen von Tantra-Lehrern weitergegeben und weiterentwickelt. Daraus sind viele unterschiedliche Tantra-Schulen entstanden, die alle jeweils eine Blüte des großen Blumenstraußes des Tantra verkörpern.

Auch wenn die einzelnen Tantra-Schulen kaum noch in der Tradition des alten indischen Tantras unterrichten, sind doch die ursprünglichen Lehren zu einer wahren Bereicherung für unseren Kulturkreis geworden.

Das moderne Tantra nimmt seinen eigenen Begriff wörtlich und lässt den Menschen das Verbunden- und Vernetztsein direkt mit aller Intensität und auch Süße auf verschiedene Weise erfahren.

Das Tantra stellt dem Leistungsdruck der modernen Gesellschaft die Hingabe und das Loslassen gegenüber. Es lehrt die Liebe zum Körper als Tempel der Seele. Es führt dazu, das sakrale Element in der Sexualität zu entdecken, genauso wie den Ausdruck und das Erleben von Gefühlen, um von da aus „zu den Göttern“ aufzusteigen und das Bewusstsein auszudehnen.

Das moderne Tantra ist nicht nur eine Liebesschule, sondern einen Lebensschule – ein abenteuerlich spannender Weg der Selbsterfahrung.