Das Tantra fordert auf, die Taschenlampe zuerst auf sich selbst zu richten: Bewusstseinsentwicklung bedeutet hier zum Beispiel, zu erkennen, wo man sich selbst gegenüber Gewalt anwendet. Eine Form davon ist eine innere Instanz, der innere Richter.

Mit allen Urteilen, Meinungen über die eigenen Gedanken und Handlungen erzeugt er physische Phänomene, die körperlich wahrnehmbar sind. Die Wachheit wird beeinträchtigt und ebenso die Gemütslage und die Präsenz im Moment.

Der innere Richter ist die Kraft, die den eigenen Wert als menschliches, liebenswertes Wesen unablässig berechnet, abschätzt und damit die Fähigkeit, spontan, lebendig und lustvoll dem Leben gegenüber zu sein, einschränkt. Psychologisch betrachtet entsteht dieser Aspekt aus dem Über-Ich, welches Regeln, Werte, Vorlieben und Moral von den Eltern und der Gesellschaft übernommen hat.

Dieser Teil kommentiert andauernd und fällt Urteile, egal ob sie wahr sind oder nicht. Jedenfalls sind sie für den Richter wahr, z. B. wie folgt:

  • Das hättest du nicht tun sollen!
  • Du Idiot!
  • Ich kann es nicht fassen, dass du so eine dumme Bemerkung gemacht hast!
  • Wie kannst du dich nur so blöd benehmen? Ganz klar, dass er/sie dich nicht will …
  • Du bist so fett, dünn, doof, platt, dumm, hässlich etc. Niemand will mit dir zusammen sein.
  • Du hältst dich wohl für ziemlich intelligent, was?
  • Wenn du jetzt nicht endlich anfängst, wird nie etwas aus dir!
  • Jetzt hast du es völlig vermasselt – das war ja klar!
  • Du bist so peinlich!
  • Wird auch langsam Zeit, dass du das einsiehst!

Weitere Beispiele, die nicht ganz offensichtlich sind, aber genauso degradierend sein können, lauten folgendermaßen:

  • In deinem Alter solltest du aber mehr verdienen.
  • Du kannst nicht gut Kritik annehmen – habe ich recht?
  • Du solltest nicht so hart mit dir selbst umgehen.
  • Nur wer faul ist, schläft bis 9 Uhr.
  • Du hast solch ein unglaubliches Potenzial!

Ein Urteil enthält immer eine Überzeugung.

Wenn diese Überzeugung für wahr gehalten wird, lenkt es von der Realität im Moment ab und macht es sehr schwer, dem etwas entgegenzusetzen. Es ist besonders schwer, wenn ein Funken von Wahrheit darin steckt.

Weil das Urteil aber tatsächlich oft als komplette Wahrheit akzeptiert wird, entsteht Selbstablehnung anstelle einer inneren Verteidigung. Es greift den Selbstwert und die Effektivität an und untergräbt das Handlungsvermögen.

Wenn hier keine klare Differenzierung erfolgt, endet der innere Dialog meist in einer Unterwerfung gegenüber dieser Stimme. Es ist äußerst vorteilhaft, diese innere Unterwerfung zu beleuchten – nicht nur für sich selbst, sondern auch, um in Beziehungen dem anderen ein liebevolles Gegenüber sein zu können.

Im Tantra wird diese Instanz des Richters als Teil des EGOS bezeichnet. (Spirituelle) Reifung bedeutet, sich dieses gewahr zu werden.

Für Rollenspiele zum Thema Unterwerfung und Demütigung ist es wichtig, dies zu realisieren und sein Bewusstsein zu schärfen, sodass keine traumatischen oder verletzenden Situationen entstehen. Sondern durch innere Erkenntnis kann man damit spielen, sich necken und darüber in Gelächter ausbrechen, da keine Identifizierung und damit auch keine wahre Verurteilung stattfindet.

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Tantra und Kink

Übung zum Beobachten des inneren Richters:

  • Führe für eine Woche ein Tagebuch und notiere alle Urteile, Angriffe auf dein Selbst – am besten sofort in knappen Worten.
  • Notiere das Urteil nicht in „Ich-Aussagen“, sondern in „Du-Form“, z. B. Du Schwachkopf!
  • Notiere deine Körperempfindungen und dein Energieniveau nachher. Inwiefern ändert sich dein Verhältnis zu Menschen rundherum?
  • Notiere deine Gefühle und deinen emotionalen Zustand. Inwiefern hat er sich dir selbst gegenüber verändert