Berlin, Winter 22
„Du stirbst gleich“, höre ich seine Stimme sanft in mein Ohr geflüstert. Im Hintergrund höre ich noch leise, spacige Musik, die einen im Sound ertrinken lässt. Ich sehe nichts. Eine straffe Augenbinde liegt eng am Kopf. In meinem Mund steckt ein Knebel. Die Arme sind nach hinten festgebunden. Ich atme tief durch die Nase ein und aus. Die sexy Korsage hebt und senkt sich über meiner Brust und macht durch die enge Schnürung das Atmen nicht leichter. Ich lasse nervös die Beine baumeln und meine schwarzen Stiefel klopfen leise gegen das Holz.
Ich sitze Beine breit auf einem Podest und schnappe nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er nimmt mich in den Arm und lässt dabei eine Hand an meinen Hals wandern. Mit den Fingern der anderen Hand hält er mir langsam die Nase zu. In mir macht sich Panik breit: Meint er das jetzt ernst? Jetzt und hier? Sterben? Das war nicht verabredet! Ich warte ab und die Sekunden vergehen. Was heißt Vertrauen? Ich lasse los von allen Vorstellungen.
Dann beschließe ich, komplett loszulassen. Die Sekunden verstreichen. Er ändert nichts. War es das jetzt tatsächlich? Und wenn, ja? Alles ist gut. Mein Leben war großartig. Ich habe das Gefühl, man kann sterben ohne Widerstand. Eine große Akzeptanz breitet sich in mir aus. Ich wundere mich, wie lang ich ohne Sauerstoff sein kann. Leben ist kostbar. Ich ringe um nichts mehr.
Ich frage mich, wann ich mich wohl bemerkbar machen muss, während sich jede Sekunde wie an einem Gummiband in die Länge zieht. Die Zeit bleibt stehen. Ich bin im Vakuum der Hingabe. Nichts, leer. Leere. Sanfte, unaufgeregte Bewusstheit im Raum.
Als hätte er geahnt, dass nichts mehr geht, lässt er plötzlich die Hand los. Ich atme sofort wie eine Ertrinkende, die gerade aus dem Wasser gerettet worden ist. Ich erlebe den Atem als Strom des Lebens, als rieselnden großen Fluss, der mich in einem Zug penetriert und sich zärtlich wieder zurückzieht wie in einem sexuellen Akt. Mein Körper sinkt in seine Arme und ich bin durchdrungen vom Atem.
Die Moleküle tanzen und vibrieren in meinem Körper. Ein Windhauch der Existenz umhüllt mich. Wie leicht ist doch Vereinigung – kommt mir in den Sinn, während er mich langsam entfesselt.
Auf seine Anweisung darf ich die Augen wieder öffnen. Ich staune, als ich sehe, dass direkt vor mir ein junger Mann auf einem Stuhl sitzt und mich schweigend anschaut. „Hat er die ganze Zeit dort gesessen?“ Ja, hat er. „Hat er mir die ganze Zeit zwischen die Beine geschaut?“ Ganz still hat er zugesehen, sagt mein Begleiter. In aller Stille und Ruhe. Ich bemerke einen Anflug von Scham. Muss ich da drauf springen? Nein.
Der junge Mann mit dem Namen einer Tänzerin verabschiedet sich lächelnd von uns.
Mir kommt der tantrische Zeuge in den Sinn. Der im tantrischen Ritual völlig entspannt, ohne Urteile, aber mit Präsenz das Geschehen betrachtet. Meditativ verschmilzt er mit der Episode, ohne dabei sich selbst zu verlieren. Eine menschliche Kunst des Betrachtens.
Wir schweigen.
Inwiefern hat das Ereignis etwas mit Sexualität zu tun? Mein Unterhöschen ist immer noch an Ort und Stelle. Ich frage mich, ob man die Großartigkeit der sexuellen Energie jemals beim Schopf fassen kann.
Wir sitzen Arm im Arm auf dem Podest und lassen uns vom roten Licht (b-)erleuchten. In mir tut sich in mir eine große Schönheit auf.
Tantra kann man nicht erfassen, man muss darin ertrinken, um angefüllt zu werden vom Glück ohne Inhalt.