Mit weiblicher Stärke assoziieren viele Menschen automatisch bedingungslose Liebe, Weichheit und Nachgiebigkeit. Doch die Darstellungen der verehrten Gottinnen im Tantra beinhalten nicht nur Qualitäten wie Güte und Mitgefühl, sondern erinnern auch an die Kraft des Zorns.

In der Göttin Kali vereinen sich die beschützenden Aspekte der göttlichen Mutter mit dem kraftvoll Kämpferischen, einer Qualität, die sie befähigt, blutrünstig gegen Dämonen zu kämpfen. Gemeint sind damit die Dämonen unseres Unbewussten, der Kampf gegen die Kräfte in uns, die uns das Leben schwer machen, wie z. B. Resignation, Ängste und Leistungsdruck, Depression, Verwirrung, Regression und Selbstablehnung.

Im Tantra leben die Götter nicht weit entfernt im Himmel, sondern als Anteile der eigenen Person, die es zu erwecken gilt, direkt unter uns. Kali tanzt auf dem Zwerg des Unbewussten und trägt stolz eine Halskette mit abgeschlagenen Totenschädeln, den Köpfen des EGOs. So erinnert uns Kali daran, dass heiliger Zorn eine unbändige Kraft der Verwirklichung sein kann. Authentisch gelebter Zorn wird zum Schwert, um im Alltag für eigene Bedürfnisse einzustehen und Grenzen zu ziehen, um in bester Weise für sich selbst zu sorgen und seiner Kreativität und Einzigartigkeit Ausdruck zu verleihen.

Die zornige Gottheit fordert dazu auf, aus dem Opferstatus herauszutreten.

Solange die Wut nicht befreit und die eigene Täterschaft nicht bewusst registriert wird, versteckt sich der Zorn oft hinter Schuldgefühlen, die meist ebenfalls ein Schattendasein führen.

Kali erinnert uns mit Ihrer Wildheit daran, dass Selbstsabotage kein geeignetes Mittel zur Auflösung der unterdrückten Wut und der Schuldgefühle ist.

In Partnerschaft wird Kali als die Gemahlin Shivas dargestellt, dessen meditative Ruhe sie mit Ihrer Wildheit belebt. Das Paar bildet in seiner Unterschiedlichkeit eine Einheit. Kali erinnert Liebende daran, dass es für eine erfüllte Partnerschaft Auseinandersetzung und die Überwindung projektiver Angst braucht.

Kalis Kraft verhindert kindliche Abhängigkeit, sie mutet zu und fordert z. B. das Gegenüber heraus, den Grund für gefühlte innere Distanz zu benennen. Sie entschuldigt sich nicht laufend automatisch und vorneweg, sondern sie weiß, dass Klarheit effizient und legitim ist.

Kalis Zorn ist eine liebevolle Demaskierung, die den Zuckerguss des Vergessens mit heißem Hauch löst.

Die reine Erkenntnis ist im Tantra immer wertvoll, auch wenn diese Erkenntnis mitunter zu Tränen führt oder zu Tränen rührt. Erlebter Zorn ist eine bedeutsame sinnliche Erfahrung, die uns ein Plus an Freiheit schenkt! Sich dem Lebensfluss angstfreier entgegenzuwerfen bedeutet, ein lustvolleres, glücklicheres und humorvolleres Leben mit allen Aufs und Abs feiern zu können!