Kinder als Liebes-Ersatz

In einem ARD-Tatort-Krimi spielt Til Schweiger den persönlich wie beruflich angeschlagenen Kommissar Nick Tschiller. In einer Szene legt sich der alleinerziehende Vater (Schweiger) mit seiner fast erwachsenen Tochter zusammen ins Bett und gibt ihr einen Gute-Nacht-Kuss. Nein, nicht auf den Mund, aber die Parallele zur Geliebten beziehungsweise zur Mutter ist hier ansatzweise deutlich. Trauert er doch im Film der Verflossenen nach.

Ich wünschte, es wäre so: Der Vater ist sich in seiner Männlichkeit und in seiner Rolle als Vater sicher. Er betrachtet seine Tochter mit liebevollem Blick und kann das sexuelle Heranwachsen beglückwünschen, ohne die Sehnsucht, den Strom der eigenen Begierde auf sie zu richten oder gar die Tochter als Ersatzkuschelpartnerin zu benutzen. Er ist sich seiner Gefühle der Tochter gegenüber bewusst und muss sich nicht aufgrund des auftauchenden Eros ihr gegenüber innerlich distanzieren. Vielleicht zieht er räumlich Grenzen, indem er mit der Tochter nicht im ehemaligen Ehebett schläft, sondern allein auf der Couch. Nicht aus Scham, sondern aus Respekt vor ihrem aufblühenden weiblichen Wesen.

Anderenfalls ist die Chance hoch, dass das Drama des Mädchens startet. Es wird sie auf ewig bannen in der Suche nach dem Geliebten, dem Einzigen, mit dem sie das Gefühl von Sicherheit und Bindung hat. Diese Sehnsucht kann sich in Form von Projektion wie eine Brille auf ihre Weltsicht setzen und sie in diverse Fettnäpfchen treten lassen.

Dies gilt nicht nur für Mädchen. Oft wird der „kleine Mann“ von Mama als Liebes-Ersatz benutzt.

Den Prinzen hinter der Rosenhecke erwecken

Ich erinnere mich an einem Teilnehmer meiner Seminare: Peter wuchs in einer Familie auf, in der ein wahrer Rosenkrieg herrschte. Seine Mutter versuchte, den Vater zu hindern, Zeit mit dem Kind zu verbringen und leitete sogar Gerichtsprozesse nach der Trennung ein. Sie nutzte den Sohn, um ihre Gefühle in den Griff zu bekommen, und erzählte ihm Geschichten über seinen Vater, die er nicht hören wollte. Peter begann mit sechs Jahren, in die von der Mutter vorgegebenen Fußstapfen der männlichen Rolle zu schlüpfen. Er wollte seine verzweifelte Mutter schützen und sehnte sich nach seinem Vater. Seine Mutter band ihn emotional mit überstülpender „Mutterliebe“. Die unsichtbaren Ketten behielt er weitgehend unauffällig, da er sympathisch, hilfsbereit und verständnisvoll auftrat und beruflich erfolgreich war. Nur ernsthafte Beziehungen zu Frauen oder gar eine Partnerschaft wollten partout nicht gelingen.

Von Anfang an gewohnt, zwischen zwei Stühlen zu stehen, war er in seiner Männlichkeit wenig zu Hause. In seinem Erwachsenenleben hatte er große Schwierigkeiten, sich in seiner Männlichkeit sicher zu fühlen. Es äußerte sich auch in sexuellen Funktionsstörungen bei den seltenen erotischen Treffen.

Da weder Partnerschaft noch gelebte Lust eine große Rolle in seinem Leben spielten, legte er sich zurecht, er sei halt asexuell und hielt sich in entsprechenden Foren auf.

Im Seminar fiel er am ersten Abend bei den Hinweisen zur Struktur auf. In den Jahresgruppen gibt es verschiedene No Go’s während der Gruppenzeit. Eines davon ist die Regel, das Telefon soweit als möglich auszuschalten, um nicht durch Anrufe abgelenkt zu werden. Peter entschied zum ersten Mal im Leben, seine Mutter am Ende des Tages nicht anzurufen, um ihr eine „Gute Nacht“ zu wünschen. Er war 40 Jahre alt.

Innerhalb des Seminars entpuppte sich Peters vermeintlich asexuelles Dasein als verborgene Lust, welche hinter einer Rosenhecke aus Angst einen wundervollen Prinzen verbarg, der selbstbewusst sein Schwert ziehen konnte, um sich von den Dornen zu befreien.

Wer früh keine gesunde Bindung erfahren hat, ist anfällig für alle möglichen Arten von Märchenträumen, die in der Realität immer enttäuschende und tragische Auswirkungen haben.

Ein guter Start ins Leben schafft eine psychische Stabilität, die dank kräftiger Wurzeln auch bei späteren traumatischen Ereignissen nicht komplett aus der Balance kommt.

Entscheidend ist allerdings nicht unbedingt eine Bilderbuch- und relativ konfliktfreie Kindheit, sondern inwieweit Konflikte emotional durchgearbeitet und damit in die Persönlichkeit integriert worden sind.

Dies bewirkt, dass Probleme angegangen werden, die üblicherweise in der Beziehung zu den eigenen Kindern aufkommen können.

Und es ermöglicht eine Beziehungsfähigkeit, die Nähe und Intimität herstellen kann, ohne sich selbst zu verleugnen.

Wer diesen Prozess spürbar durchlaufen hat, wird nicht nur von jeder Gemeinschaft mit Handkuss aufgenommen – vorausgesetzt die Gemeinschaft ist nicht auf defizitäre Mitstreiter angewiesen …

Passendes Seminar:

„Lust und Schatten“

Buchtipp zu diesem Thema:

„Von Trauma befreien“ – Peter Levine